AW Designer des Jahres
AW Designer des Jahres

AW Designer des Jahres 2018: Marcel Wanders

Der Preis "AW Designer des Jahres 2018" geht an den Niederländer Marcel Wanders. AW Architektur & Wohnen gratuliert dem Preisträger, dessen Kundenliste von Alessi über Swarovski bis Louis Vuitton reicht. 
Datum20.01.2020

Er hat es schon immer gewusst: Das Design der Zukunft braucht Sinnlichkeit, Opulenz, Spaß und einen Hauch Entertainment. Niemand hat diese Maxime so konsequent verfolgt wie der Niederländer Marcel Wanders. Gegen viel Kritik hat er sich durchgesetzt, heute ist er der Trendsetter. Mit seinen Werken, seinen Interiors, seiner Marke Moooi. Wir gratulieren dem AW-Designer des Jahres 2018!

Es stecken viele Wanders in Marcel Wanders. Mindestens ein Designer, ein Romantiker und ein Geschäftsmann – und sie sind nicht immer leicht auseinanderzuhalten, wohl nicht mal von ihm selbst. Der Designer schaffte es gleich mit seinem ersten Sitzmöbel in die Museen, der Romantiker hat sich mit seiner Begeisterung für Dekor nicht nur Freunde gemacht und der Unternehmer gründete sein eigenes Label, kaufte sich in ein Hotel ein und liebäugelt jetzt mit Immobilien-Projektierung: Wunderkind Wanders.

Holland ist klein, aber für Marcel Wanders war es ein langer Weg aus dem Kleinstädtchen Boxtel nach Amsterdam, wo er heute in einer umgebauten vierstöckigen Schule im angesagten quirligen Altstadtviertel Jordaan sein Studio mit 60 Mitarbeitern betreibt. Seine Eltern hatten ein kleines Haushaltsgeschäft und Marcels Kinderzimmer glich eher einer Werkstatt, wo er mit ausrangierten Toastern und Mixern, kaputten Bügelbrettern oder Leitern spielen durfte. Gelernt hat Wanders da, ohne dass er es wusste.

Als er sich im 30 Kilometer entfernten Eindhoven, der Gründungsstadt von Philips, an der Uni für Industrial-Design einschrieb, schien er also erst mal leichtes Spiel zu haben, buchstäblich. „Der innere Aufbau von Dingen, all das Konstruktive, das war überhaupt nichts Neues für mich. Man konnte mir irgendein Objekt zeigen und ich sah instinktiv die Masse, die Oberfläche, den Schwerpunkt.“ Doch aus dem Vorteil wurde ein Handicap. Ihm war langweilig, er wollte keine Vorträge über rechte Winkel und Abwicklungen, er wollte weiter experimentieren. Nach nicht mal einem Jahr flog er von der Designschule. Sein Dozent sagte ihm: „Wir sehen dich nicht als Designer!“ Von heute aus gesehen eine Pointe, damals nicht. „Ich hab geheult und aus Wut gegen die Mauern getreten. Ich war inzwischen sicher, dass Design das Richtige für mich ist. Das wollte ich unbedingt! Aber anders, mit Phantasie, mit Spaß!“ Nur ein Vorteil habe der Rauswurf gehabt: „Ich kann heute sagen: Alles, was ich mache, kommt aus mir selbst, alles, was ich kann, habe ich mir selbst zusammengesucht. Es war immer ich und es ist immer ich!“ Damals, mit Anfang zwanzig, habe er das natürlich noch nicht gewusst, „ich hatte auch viele traurige und einsame Phasen, über etliche Jahre. Ich habe mit New Age geliebäugelt, bin in Kurse für spirituelles Heilen gegangen. Ich fand lange keine Brücke zwischen mir und der technokratischen, funktionalen Umwelt.“ Für die Ausbildung machte er nach dem Eindhovener Rauswurf lange Umwege, er studierte im belgischen Hasselt an der Academy of Fine Arts, in Maastricht an der Akademie für Angewandte Künste (und dort Schmuckdesign) und schloss schließlich an der Arnheimer Kunsthochschule sein Studium mit Schwerpunkt 3-D-Design ab. Seine Diplomarbeit: eine Vase.

28 Jahre alt war er, als ein Sessel sein Leben veränderte: der „Knotted Chair“, dieses Knotennetz mit vier Beinen und einer gewölbten Lehne, besteht mehr aus Löchern als Substanz – worin man aber tatsächlich sitzen kann, auch wenn das Auge es nicht glauben will. Wie kommt man auf so eine Idee? 1994 hatte Marcel Wanders für ein Projekt mit der Designinitiative Droog an einer Aktion der Technischen Universität in Delft teilgenommen, Thema: Leichtigkeit und Stabilität. „Die forschten da für die Luftfahrt an technischen Geweben, und ich sah sofort, was das eigentliche Problem war: wer ‚fest‘ und ‚leicht‘ gleichzeitig will, braucht eine Rahmenstruktur. Das wollte ich in Textil versuchen.“ Durch seine damalige Freundin, eine Textilstudentin, war er mit Makramee-Musterbüchern vertraut, endlosen Gespinsten voller Knoten, offen blieb nur noch die Materialfrage. „Carbonfaser allein wäre zu splitterig gewesen, also suchte ich nach einem Hersteller, der einen Carbonstrang mit Schiffstau ummanteln könnte.“ Der Rest war und ist Handwerk: Für den „Knotted Chair“ wird nach dem Flechten das Gitternetz in einem Liegestuhl-ähnlichen Rahmen aufgehängt, zieht sich dort selbst wie bei den legendären Gaudí-Statik-Experimenten in Form und wird zum Schluss mit Kunstharz fixiert. Viel Aufwand für ein Hauch von Nichts – aber es war eben dieser Minimalismus, der alle sofort faszinierte. Obwohl – war es denn überhaupt Minimalismus? „Makramee ist ja eine Kitschtechnik. Ich war damals aber nicht mutig genug, um zuzugeben, dass mir auch das Dekorative gefiel. Ich dachte, man nimmt mir das nur ab, wenn ich das Dekorative der Struktur zeige.“

Der Erfolg des „Knotted Chair“ ermutigte ihn, sein eigenes Studio zu gründen, in einer Garage. Hier kann er nach Herzenslust experimentieren, es entstehen Tische aus versteiften Gardinen, schwammartige Porzellan-Vasen oder eine kleine Nachttischlampe, deren elektrische Glühbirne sich auspusten lässt wie eine Kerze. Für den niederländischen Expo-Pavillon in Hannover entwirft er die Vip-Lounge und stellt filzverkleidete Stühle hinein, sie tragen Rollen unter den Beinen, die sich unter einer Art Maxirock verbergen. Mit dem Verspielten riskiert Marcel Wanders zwar seine gerade erst errungene Anerkennung in der Minimalismus-dominierten Designszene, aber es schmerzt ihn nicht mehr so wie der Rauswurf aus Eindhoven. „Wenn man immer das Gleiche macht, wird man kritisiert, wenn man was Neues macht auch – also ist’s egal!“ Und rhetorisch dreht er auf. Und den Spieß um: „Wir brauchen diese Maschinen-Ästhetik doch heute gar nicht mehr – Minimalismus und der Funktionalismus stammen doch aus der Zeit der ersten Industrialisierung. Heute machen wir Dinge, die damals unvorstellbar waren, wir können damit unser Leben magisch machen. Darum geht es doch. Mir jedenfalls!“

2000 gründet er, zusammen mit einem Finanzpartner, das Label Moooi. Er sucht ein Netz aus Herstellern und will zeigen, wie er den persönlichen Witz behalten, die kommerzielle Nischen-Beschränktheit aber überwinden kann. Und schnell wird er, „auf der anderen Seite des Schreibtisches“, wie er es nennt, zum Paten einer nach Droog neuen, zweiten holländischen Ironie-Generation. Er lädt Jurgen Bey, Maarten Baas, Bertjan Pot und Scholten & Baijings ein, für Moooi zu arbeiten, dazu ähnlich tickende Freigeister wie Paul Cocksedge aus London, Jaime Hayon aus Barcelona und die Lady Group Front aus Stockholm. Der Designer Marcel Wanders scheint zu seiner wichtigsten Rolle gefunden zu haben, sein prägender Einfluss auf die Designszene gründet hier: anderen Designern neue spielerische Möglichkeiten freigekämpft zu haben, rhetorisch wie pragmatisch. Unter der Moooi-Artdirection von Marcel Wanders – und auf sein finanzielles Risiko – ziehen bis dahin nie gesehene riesige poetische LED-Leuchten, schwarze Möbel im Räucherlook oder lebensgroße Pferde- oder Schweine-Figuren als Lampenträger in die Interieurwelt. Witz, der sich über das Lächeln hinaus nützlich macht. Und der auch kommerziell funktioniert, längst hat Marcel Wanders seine Finanzpartner, zu denen eine Zeit lang auch B&B Italia gehörte, wieder auszahlen können.

Heute stehen Alessi, Bisazza, Swarovski, Christofle oder Louis Vuitton auf seiner Kundenliste, und er bleibt ihnen nichts schuldig – egal ob Besteck, Kristallleuchter oder Ledermöbel –, doch seine neuen Spielfelder sind größer. Seit 2005 stattet er Hotels aus, und sie übertreffen sich in Wow-Effekten: in Bonn bilden raumhohe Vasen mit Neo-Ming-Dekor eine Bar, in Miami stehen riesige Nachttischlampen mitten im Pool, in Dohar unterbrechen mehrstöckige Wendeltreppen mit Spitzdecken-Dekor die Empfangshalle, auf Mallorca beschirmen weiße Bubble- Balloon-Bäume die Terrasse und in Zürich umgedrehte XXL-Suppenteller das Restaurant.

In das Amsterdamer Andaz-Hotel, ein paar Minuten von seinem Studio entfernt, hat sich Marcel Wanders inzwischen als 50-%-Teilhaber eingekauft – und konnte so quasi an sich selbst das eigene Interieur verkaufen: gläserne Glocken als Deckenleuchten oder rote Hochlehnsessel, die aussehen wie eine halbierte Tulpenzwiebel. Das Hotelengagement ist auch der erste Schritt Richtung Immobilienentwicklung, die nächste Station soll Budapest sein. Da darf man sich also noch auf einiges gefasst machen. Seine nächsten Traumprojekte: „Eine Moschee. Und ein Opernbühnenbild für die Met.“